Unmenschliche Arbeitsbedingungen und Hungerlöhne, die kaum zum Leben reichen: Seit Jahren stehen Mode- und Luxusgüterkonzerne deswegen in der Kritik. Und seit Jahren bemüht die Branche dieselben Ausreden, gelobt Besserung und verweist auf freiwillige Massnahmen einzelner Unternehmen oder Brancheninitiativen, die für faire Löhne in den Zulieferfabriken sorgen sollen. Nur: In der Praxis sind diese Absichtserklärungen nichts wert. Ausbeutung bleibt in der Textilindustrie der Normalfall.

In der Toskana liegt Prato, das pulsierende Textilzentrum Italiens. Die Stadt vereint Tradition und Innovation. Hier erzählen Webstühle und Wollfäden eine jahrhundertealte Geschichte. In den engen Gassen spürt man den Rhythmus der Webmaschinen. Er mischt sich mit dem Klang der Kirchenglocken. Prato ist ein lebendiges Museum unter freiem Himmel. Die Stadt atmet Geschichte, von etruskischen Siedlungen bis zu mittelalterlichen Plätzen. Vergangenheit und Gegenwart verschmelzen zu einem faszinierenden Ganzen. Besucher aus aller Welt werden von Pratos Charme angezogen.
Auf den Kleidern steht „Made in Italy”, geschneidert werden sie von Chinesen. In der italienischen Textilstadt Prato hat sich eine chinesische Parallelwelt gebildet, die zu sehr unitalienischen Bedingungen produziert. Sie importiert Stoffe am Zoll vorbei, beschäftigt illegale Arbeiter und produziert so billige Klamotten für ganz Europa.
Knapp 30.000 der insgesamt etwa 195.000 Einwohner Pratos gehören der chinesischen Gemeinschaft an – die ersten von ihnen kamen Mitte der 1980er Jahre. Damit hat Prato die zweitgrößte chinesische Gemeinschaft in Italien nach Mailand, wo es 30.700 von mehr als 1,3 Millionen Einwohnern sind.
Die meisten der in Prato lebenden Chinesen stammen aus Zhejiang, einer Region im Süden Chinas, und insbesondere aus der Stadt Wenzhou. Wenn man die Via Pistoiese hinuntergeht, fallen neben dem angenehmen Geruch von Gewürzen die vielen Geschäfte mit zweisprachigen italienisch-chinesischen Schildern auf. Solche Zeichen wurden 2009 durch eine kommunale Verordnung des ehemaligen Mitte-rechts-Bürgermeisters Roberto Cenni eingeführt. (…)

Bekleidungsindustrie in Prato
Die toskanische Stadt Prato zählt zu den Hochburgen der Kleiderindustrie in Europa. Sie beherbergt tausende Fabriken, in denen teils bis in die Nacht hinein die Nähmaschinen rattern. Dominiert wird der Textilsektor von der chinesischen Community: «Der Grossteil der Chinesen hier macht Kleider», sagt Anna (17), deren Eltern nach Italien eingewandert sind.

Der Löwenanteil der lokalen Nachrichten ist jedoch der Ausbeutung der irregulären Einwanderung oder der Schwarzarbeit vorbehalten. Die ist zusammen mit den Arbeitsbedingungen ein Problem, das vor fast zehn Jahren ins internationale Rampenlicht geriet, als im Dezember 2013 beim Brand in der Firma Teresa Moda sieben Menschen starben, von denen einige illegalisierte Einwanderer waren. Die Angestellten des Unternehmens, alle chinesischer Herkunft, arbeiteten, aßen und schliefen in der Fabrik, in Schlafsälen aus Gipskartonplatten. Einer der Toten wurde in einem Schlafanzug gefunden.
»Jedes Jahr gibt es mindestens eine oder zwei Wellen von Menschen, die kommen und gehen«, bestätigt auch Federico Santini, ein Musiklehrer, der in der Via Pistoiese wohnt, »so dass nur wenige hier Wurzeln schlagen. Integration findet statt, und es gibt keine großen Probleme zwischen den Gemeinschaften und auch viele gemischte Ehen.
»Die Zahl der Chinesen in Prato wird wahrscheinlich nicht zunehmen«, betont Teresa Lin, ebenfalls Italienerin chinesischer Herkunft, die 2019 mit der Lista Civica Biffoni in den Stadtrat von Prato gewählt wurde und Tochter des Besitzers eines Pronto Moda im nahegelegenen Seano ist, »auch weil sich die wirtschaftlichen Bedingungen in China verbessert haben und die Leute bleiben«. Für die Einwohner von Prato hingegen ist es wichtig, dass die Einwanderer bleiben. »Wenn die Chinesen weggingen, wären wir aus dem Geschäft«, räumt Barbesitzer Capobianco ein, während er seinen Kaffee zu Ende kocht und lächelt.

In der TICK-TALK Reportage zeigt Anna ihr Quartier rund um die Via Pistoiese, wo sie lebt: «Die Italiener nennen das hier Chinatown.» Über 30’000 Chinesinnen und Chinesen leben laut aktuellsten Behördendaten in der Provinz Prato. Pater Attilio Rossi gibt derweil Abendkurse für Immigranten: «Eigentlich müsste ich hier gar kein Italienisch können», sagt Schüler Alessio Xu, der seit 24 Jahren in Prato lebt. In einer Reportage berichtet das undercover Team von TICK TALK aus dem Textil-Hotspot Prato.
Im ersten Teil wurde aufgezeigt, was «Made in Italy» bedeuten kann: «Wir bekamen drei Euro pro Stunde – ohne Rechte, wie Sklaven», sagte Zain. Er arbeitete für einen Zulieferer der Edelmarke Montblanc, die zum Schweizer Luxuskonzern Richemont gehört.
Ein Hotspot ist das Quartier um die Via Pistoiese, wo fast jedes Geschäft auf Chinesisch angeschrieben ist. “Die Italiener nennen das hier Chinatown”, sagt Anna (17). Sie sei in Italien geboren, ihre Eltern arbeiten im Textilsektor. “Die meisten Chinesen machen hier Kleider”. Die schlechten Arbeitsbedingungen sind ein offenes Geheimnis. “Die meisten wollen einfach Geld verdienen und kennen die italienischen Gesetze nicht”, sagt Anna.
Eine andere Theorie hat der ehemalige Textilarbeiter Zain: “Der Besitzer der Fabrik, in der ich gearbeitet habe, war Chinese. Er hat den chinesischen Arbeitern eine Wohnung erstellt, ihr Essen bezahlt und sie zu den Behörden begleitet”. So habe der Chef eine volle Kontrolle über die Angestellten.

In manchen chinesischen Manufakturen wird nicht nur gearbeitet, sondern auch gewohnt. (Bild: VALERIO BISPURI / LUZ)
Laut Gewerkschaften findet man hier diesselben unmenschlichen Arbeitsbedingungen wie in Pakistan, Bangladesh oder China und auch der Schweizer Luxuskonzern mischt mit.
Der Genfer Luxus-Riese Richemont zu dem die Marke Montblanc gehört, weist in einem Statement die Vorwürfe zurück, die von einer Gewerkschaft erhoben wurden: «Montblanc operiert in voller Übereinstimmung mit den Gesetzen und seinem eigenen Ethikkodex, der konsequent auf alle Zulieferer angewendet wird.» Wenn dieser nicht eingehalten werde sei es üblich, die Zusammenarbeit zu beenden.
SUMMARY_