Donnerstag , 25 April 2024
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Alexandre Haussener (links) und Gilles Fischer von der Berner Firma Precycling haben sich auf die Sortierung und Verwertung von Metallabfällen aus der Uhrenindustrie spezialisiert. Samuel Jaberg / swissinfo.ch

«Mehr Kreislauf statt Leerlauf» – Die Zukunft der Uhrenindustrie

Die globale Versorgungslage lahmt. Es drohen leere Regale und höhere Konsumentenpreise für billig produzierte Asien-Produkte. Die Chance für mehr Kreislaufwirtschaft ist gekommen.

Geschlossene China-Häfen. Verstopfte Handelsrouten. Boomende Weltwirtschaft. Wir holen nach, worauf wir in der Corona-Krise verzichten mussten.

Geschlossene China-Häfen. Verstopfte Handelsrouten. Boomende Weltwirtschaft .

Wir bekommen nicht mehr alles, was wir kaufen wollen. Beim Konsum werden sich die höheren Frachtkosten mit Verzögerung in höheren Preisen niederschlagen. Mehr ins Gewicht fällt: Nicht mehr alle können arbeiten, wie sie arbeiten wollen. Der Mangel an Chips und Zubehör führt bereits zur Kurzarbeit bei ersten Schweizer Autozulieferern.

Was könnte die Lösung sein? Ohne Billigprodukte geht es nicht mehr. Aber mit weniger davon. Eine Möglichkeit und gleichzeitig grosse Chance wäre, mehr Gebrauchtem ein zweites Leben zu schenken. Kreislauf statt Leerlauf. Mehrweg statt Einweg. Dort, wo möglich, regional statt global.

Auch für die Uhrenindustrie ist Receycling im Rahmen der Rohstoffverknappung ein Thema geworden. Die Schweizer Industrie verarbeitet fast 120’000 Tonnen Edelstahl pro Jahr. Damit ist sie eine der grössten Verbraucherinnen dieses Metalls in Europa. Besonders die Uhrenindustrie hat begonnen, diesen Rohstoff zu rezyklieren.

Der Recycling-Hof Precyling in Reconvilier im Berner Jura sieht aus wie viele andere in der Schweiz. Im Innenhof hängt ein Autowrack am Kran, es erlebt gerade seine letzten Stunden. Daneben warten Dutzende von Kubikmetern Holz, Papier, Karton, leere Flaschen und andere Materialien darauf, ihrer fachgerechten Wiederverwertung zugeführt zu werden.

Reconvilier, eine Berner Gemeinde mit etwas mehr als 2000 Einwohnern, verfügt über mehrere Industriebetriebe und einen grossen Recycling-Hof. swissinfo.ch/Céline Stegmüller

Ins Auge sticht gegenüber diesem sorgfältig sortierten Durcheinander jedoch das imposante Verwaltungsgebäude. Hochsicherheits-Räume, Panoramafenster, Designersessel und ein mit einem grossen Bildschirm ausgestattetes Sitzungszimmer: Das alles passt nicht zum Bild, das man normalerweise von einem Recyclinghof hat. “Wir mussten unsere Standards anpassen an die Welt der Uhrmacherei “, sagt Alexandre Haussener, der Chef von Precycling.

Der VIP-Eingang für Vertretende von Uhrenmarken. swissinfo.ch/Céline Stegmüller

Jedes Jahr zerlegt das Berner Unternehmen nebst den üblichen Arbeiten vertraulich auch Hunderttausende von Uhrenbestandteilen, angeliefert von rund zwanzig Uhrenmarken aus der Region. Dabei handelt es sich grösstenteils um unverkaufte Uhren. Sie wurden vom Markt genommen, damit der Graumarkt nicht gefüttert wird. Teils handelt es sich aber auch um fabrikgefertigte Teile mit Mängeln. Die verschiedenen Metalle – Gold, Silber, Titan, Stahl und mehr – werden sorgfältig sortiert, oft von Hand, bevor sie geschreddert und der Wiederverwertung zugeführt werden.

Uhrenteile, die bald sortiert, zerkleinert und recycelt werden. swissinfo.ch/Céline Stegmüller

“Vor einigen Jahren wurden die überschüssigen Bestände der Uhrenfirmen oft noch mit Walzenkompressoren zerkleinert. Die Sortierung war sehr einfach”, sagt Gilles Fischer, technischer Leiter von Precycling.

Das Gold des Juras

Die Uhrenindustrie ist nicht der erste Schweizer Wirtschaftszweig, dem Defizite im Bereich der Nachhaltigkeit vorgeworfen werden. Der Rohstoffhandel und das Finanzwesen sind viel stärker unter Beschuss. Ein 2018 vom WWF veröffentlichter Bericht äusserte sich jedoch sehr kritisch in Bezug auf die sozialen und ökologischen Auswirkungen der Industrie, diese seien “viel schwerwiegender als es auf den ersten Blick scheinen mag”. Dabei geht es einerseits um den Bedarf an grossen Mengen kostbarer Rohstoffe, aber auch um die mangelnde Transparenz der meisten Uhrenhersteller. Beide Faktoren bezeichnete die Umweltorganisation als “äusserst besorgniserregend”. Doch das ändert sich allmählich. Am anderen Ende des Entsorgungshofs von Reconvilier, in einer grossen, halb überdachten Lagerhalle, finden sich mehrere Kübel, die bis zum Rand mit Spänen gefüllt sind. Sie stammen aus der Metallbearbeitung mehrerer Unternehmen der Region.

“Dieser Stahl des Typs 4441 wird zur Herstellung von Teilen für die Uhrenindustrie und in der der Medizinaltechnik verwendet”, sagt Fischer. “Das ist das schwarze Gold des Juras.” Er zeigt auf die Tonne mit den dunkelsten Spänen.

Stahlspäne des Typs 4441, einer der stärksten auf dem Markt. swissinfo.ch/Céline Stegmüller

Der in Reconvilier zurückgewonnene Stahl – mehr als 20 Tonnen pro Monat – wird zu den Öfen des Werks Ugitech in Savoyen transportiert, wo er eingeschmolzen und in bearbeitbaren Stabstahl umgewandelt wird, bevor er in der Schweizer Industrie wiederverwendet wird. Die jurassische Uhrenmanufaktur Panatere steht hinter diesem landesweit ersten Verfahren für rezyklierten Edelstahl.

Das Rezept heisst Regionalisieren

“Stahl ist das am häufigsten verwendete Rohmaterial in der Uhrenindustrie. Allein dieser Industriezweig verbraucht fast 9000 Tonnen davon pro Jahr”, sagt Raphaël Broye, Gründer von Panatere.

Raphaël Broye, Gründer von Panatere

Die fast 1500 Tonnen Stahlspäne, die bei der Bearbeitung von Uhrenteilen anfallen, werden in der Regel jedoch nach China geschickt, wo sie eingeschmolzen und zu Barren von mittelmässiger Qualität recycelt werden. “Das ist sowohl ökologisch als auch wirtschaftlich ein Irrweg”, sagt Broye.

Nach den Berechnungen seines Unternehmens verursacht rezyklierter Stahl sechsmal weniger CO2 als konventionell hergestellter. Dies ist ein starkes Argument in einer Zeit, in der auch die Uhrenindustrie über ihre Massnahmen zugunsten des Klimas und der Umwelt Rechenschaft ablegen muss. Der Anstieg der Rohstoffpreise und die Lieferschwierigkeiten infolge der Coronavirus-Krise haben dem Projekt des jurassischen Unternehmens ebenfalls Auftrieb gegeben.

“Wir stehen in Kontakt mit grossen Uhrmacherkonzernen, die an unserem rezyklierten Stahl interessiert sind”, sagt Broye. Regionalisierte Produktion werde für die Schweizer Uhrenindustrie zweifelsohne das Schlagwort der nächsten Jahrzehnte sein, schätzt er.

Der Panatere-Inhaber will als nächstes in der Region einen industriellen Solarofen bauen. Die Kosten dürften sich auf fast zehn Millionen Franken belaufen. Theoretisch wäre es dann möglich, den rezyklierten Stahl unendlich wiederzuverwenden, alles in der Schweiz.

Die erste Recycling-Uhr aus Stahl

Das Startup ID Genève hat soeben die erste aus diesem rezykliertem Stahl hergestellte Uhr auf den Markt gebracht. Die 300 Exemplare des Modells Circular 1 wurden im Rahmen eines Crowd-Fundings im Dezember 2020 in weniger als 48 Stunden verkauft.Die für 3500 Franken verkaufte “Circular Swiss Made”-Uhr verfügt neben seinem rezyklierten Gehäuse über ein generalüberholtes, wiederverwendetes Uhrwerk, dazu ein Armband aus Traubentrester.

Der rostfreie Stahl der ID Geneve ist zu 98 Prozent wiederverwertet. Bild: ID Watch SA/Tonatiuh & Daniela

“Wir haben ein ausgezeichnetes Feedback von unseren Kunden erhalten”, sagt Nicolas Freudiger, Co-Gründer von ID Genève. Die meisten seien “Millenials”, die ihren Aktivismus am Handgelenk zeigen. “Sie wollen nicht einfach einen protzigen Gegenstand tragen, der für Reichtum steht.”

Nachhaltigkeit ist das eine, alten Uhren neues Leben einzuhauchen der andere starke Trend

So ist auch der Entscheid der Uhrenindustrie richtig, jetzt den Wiederverkauf gebrauchter Produkte – Certified Pre-owned Watches – zu forcieren und die Konsumenten in den Kreislauf einzuspannen. Der CPO Watches Markt, ist ein 20 Milliarden Schweizer Franken Markt, so Watchfinder Country Manager Edouard Guibert, eine Richemont Tochter, die sich auf den den Ankauf von gebrauchten Uhren spezialisiert hat. Bei Watchfinder handelt es sich nicht um eine banale digitale Plattform, sondern um einen Mix aus online und offline. Ganz raffiniert hat sich Watchfinder bei Grieder in Genf und Zürich eingemietet, unspektakulär und schwer zu finden, weil die Corners integriert sind. Denn Armbanduhren sind integrierter Bestandteil des Lifestyles der potentiellen Kunden.

Neu-Eröffnung der Niederlassung Zürich am 9. November 2021 – by appointment only! Nach Genf nun die zweite Schweizer Niederlassung – Watchfinder Country Manager Switzerland & Italy Edouard Guibert kann es kaum erwarten, bis die Niederlassung im Grieder Haus eröffnet wird.

Der Mitwettbewerber Watchbox, deren Schweizer Niederlassung in Neuchatel, ist hingegen eine reine digitale Plattform, auf der mit Uhren gehandelt wird.

Auch die Bucherer Gruppe, der weltweit grösste Fachhändler für Uhren will ein Stückchen von diesem 20 Milliarden Kunden abschneiden und führt ein CPO Watches Department. Auch renommierte Schweizer Uhrenmarken besinnen sich auf die Werte der sich im Umlauf befindlichen CPO Uhren.

Audemars Piguet und andere namhafte Uhrenhersteller haben CPO Plattformen eingerichtet, sie wollen auch diesen Markt der Gebrauchtuhren zu neuem Leben erwecken. In Tat und Wahrheit geht es um die Kontrolle der eigenen Produkte.

Schon anhand der lounge-artigen Einrichtung kann man leicht erkennen, dass der Verkauf von Produkten im AP House gerade nicht im Vordergrund steht. Vielmehr will Audemars Piguet seinen Kunden und Liebhabern der Marke einen Anlaufpunkt mit Wohlfühlcharakter – eine Plattform – geben, in der man sich wie zu Hause fühlen und die markanten Uhren, sowie deren Geschichte, in entspannter, ruhiger Atmosphäre genießen kann. Das AP House ist aber auch idealer Ort für Treffen, für Feiern von Uhrenfans im kleinen Kreise, Veranstaltungen also, bei denen man das Zusammensein mit Menschen genießen kann, die ähnlich „ticken“, wie man selbst. Auch für die Präsentation der Messeneuheiten oder Presseevents ist die Location geradezu prädestiniert.

About Karl Heinz Nuber

Nuber ist langjähriger unabhängiger Uhren Journalist und begann seine Karriere in den frühen 80er Jahren. Durch das Sammeln kam er zum Schreiben. Er ist Gründer des vierteljährlich regelmässig bilingual – Deutsch und English - erscheinenden TOURBILLON Magazin’s, der digitalen TOURBILLON Plattform TICK-Talk, der Ausstellungs- und Event Plattform Art of TOURBILLON und TOURBILLON TV. Er tritt regelmässig als Kenner der Branche in Erscheinung.

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